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Stress & Verdrängung

 Mit angezogener Handbremse, unter Strom stehen, nicht loslassen können. Jeder hat das Gefühl schon einmal kennen gelernt oder steckt seit Jahren darin fest. Was steht eigentlich dahinter?

Nahezu alle körperlichen Funktionen werden vom vegetativen, autonomen Nervensystem gesteuert und dienen dem Überleben. Das vegetative Nervensystem wacht über uns, selbst wenn wir im Koma liegen, und veranlasst biochemische Prozesse, die uns sowohl körperlich als auch psychisch entscheidend beeinflussen. So aktiviert unser Hirnstamm in einer Gefahrensituation mit Hilfe des Sympathikus (Selbsterregung) in 120 Millisekunden alle Kräfte:

Das Herz schlägt schneller, der Blutdruck schießt in die Höhe. Zwecks erhöhter Sinneswahrnehmung strömt alle Energie ins Gehirn, gleichzeitig werden Organe, die Energie verbrauchen, nur noch minimal versorgt, zum Beispiel Verdauungsorgane, die dann plötzlich Probleme machen. Ein Millionen Jahre alter Reflex von Reiz und Reaktion des vegetativen Nervensystem macht den Körper flucht- und kampfbereit.

Diese extreme Aktivierung unserer Energiereserven ist kräftezehrend und kann von unserem Organismus nur kurz ertragen werden, bevor unsere Organe Schaden nehmen. Gefäße können platzen, das Herz und andere Organe versagen. Um das zu verhindern schaltet sich zeitversetzt der Parasympathikus (Selbsterhaltung) dazu, und zwingt Herzfrequenz und Blutdruck in einen Bereich zurück, der nicht länger für uns selbst gefährlich ist. Doch die beiden Nervensysteme Sympathikus und Parasympathikus bleiben auf einem hohen Level erregt und aufmerksam:  „Es ist ein Gefühl, wie mit angezogener Handbremse vorwärts zu gehen, immer unter Strom zu stehen, und irgendwie niemals ganz los zu lassen“. Diese Beschreibung einer Teilnehmerin trifft den Umstand sehr gut, warum viele Menschen nach außen entspannt wirken, gleichzeitig aber innerlich unter chronischer Müdigkeit, Antriebslosigkeit und Überreizung leiden. Dabei bleiben selbst Entspannungsübungen und Meditation wirkungslos, können sogar den Zustand verschlimmern.

Warum können wir nicht einfach unsere negativen Erlebnisse loslassen?  Seit der Mensch in Gemeinschaft lebt, muss die Psyche permanent Wege finden, um einerseits mit einer Vielzahl von negativen Herausforderungen durch Familie, Schule und Beruf klar zu kommen, und andererseits unsere Bedürfnisse nach Geborgenheit, Wertschätzung und Autonomie innerhalb der Gruppe zu erfüllen. So ist für unsere Psyche ein sozialverträgliches Bild unseres Selbst wichtiger, als peinliche oder verdächtige Körpererregungen von Kampf und Flucht.

Wenn wir uns zum Beispiel immer wieder von unseren Eltern, Lehrern oder Vorgesetzten schlecht behandelt fühlen, aktiviert unser vegetatives Nervensystem wie beschrieben alle verfügbaren Kräfte um aus der Gefahrenzone zu flüchten oder den Kampf aufzunehmen.

Gleichzeitig erkennt aber unsere Psyche, dass wenn wir die Abwehrreaktionen des vegetativen Nervensystems umsetzen, noch weniger von dem bekommen, was wir wirklich brauchen – nämlich Zugehörigkeit, Kooperation und Fairness. 

Und so verdrängt unsere Psyche kurzerhand die Abwehrreaktionen des vegetativen Nervensystems auf die schlechte Behandlung – und in diesem Moment bekommen wir ein Gefühl von angezogener Handbremse, stehen unter Dauerstrom und organisieren eine mentale Bewältigungsstrategie:

„Wenn ich immer sagen wollte, wie mir zu Mute ist,
käm es schlimmer als es sollte, drum brauch ich eine gute List:
Ich bezähme meine Worte und beschränke mich derweil,
ich benehme mich vor Orte – doch ich denke mir mein Teil.“

Die Verdrängung der Abwehrreaktionen und die Entwicklung einer mentalen Bewältigungsstrategie ist der Beginn vieler Stressreaktions-Störungen, die im schlimmsten Fall zu Erkrankungen führen. Verdrängung und mentale Bewältigungsstrategien führen uns eben nicht in die gewünschte Ruhe, sondern in einen nicht enden wollenden Sturm von Emotionen, wie Wut, Ohnmacht, Hilflosigkeit, Scham und Schuld. Und diese schmerzlichen Emotionen versuchen wir nun zu unterdrücken (Depression = Unterdrückung) und brennen langsam aber sicher dabei aus (Burn-out).

Das ist, als würden wir ständig, einen aufgeblasenen Ball fortwährend unter der Wasseroberfläche gedrückt halten, damit ihn niemand sieht. Und falls er mal auftaucht, haben wir gleich Schuldgefühle

Was übrig bleibt ist eine lange Liste von „Begleitschäden“ auf körperlicher Ebene: chronische Entzündungen und Schmerzen, Magenbeschwerden und Verdauungsstörungen, Allergien, Herz-Kreislauf-Beschwerden, Migräne, Gelenkschmerzen und vieles mehr. Auf der emotionalen Ebene fühlen wir uns überfordert, lustlos, verzweifelt und unzufrieden, und auf der kognitiven Ebene sind es nicht selten Konzentrationsstörungen und immer wiederkehrende negative Gedanken des Selbstzweifels und der Selbstkritik.

Und jetzt? Der Stress ist nicht wirklich unser Problem, sondern das Gefühl von Hilflosigkeit und Machtlosigkeit. An dieser Stelle hoffe ich sehr, dass Sie die vielen Krisen, Konflikte und Krankheiten mehr als Folge von Verdrängung und unpassenden Bewältigungsstrategien erkennen, als eine genetischbedingte Ursache! Wenn wir endlich aufhören, unsere Betroffenheit zu verdrängen, verschwenden wir unsere Energie nicht mehr damit, die Achtung und Wertschätzung einzuklagen, die wir früh entbehren mussten – und können endlich einen „akzeptablen Schlusspunkt“ setzen.

Anstatt die Geschichte unserer Vergangenheit zu verstehen, gilt es, die mentalen Bewältigungs-strategien zu klären, die die Verdrängung aufrechthalten. Ein systemischer Ansatz, der Sie aus einer bio-psycho-sozialen Perspektive versteht und seit Jahren eindrucksvoll belegt, wie gut ein vernetztes Verständnis für die Selbstheilung ist.

Autor: Hans-Peter Hepe

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